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„Es ist ein konstanter Prozess“: Ein Interview über das Coming-out am Arbeitsplatz
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In diesem Interview erläutern die Bain-Partner Hannes Schneider und Jens Engelhardt die Erfahrungen und Herausforderungen, denen sich LGBTQ+-Führungskräfte am Arbeitsplatz stellen müssen. Sie geben fundierte Einblicke in die Bedeutung von Offenheit und die Rolle von Unternehmen bei der Förderung von Diversität und Inklusion.

Was bedeutet ein Coming-out am Arbeitsplatz? 

Hannes Schneider: Ein Coming-out am Arbeitsplatz ist meist nicht der eine große Moment, sondern ein konstanter Prozess, da man sich fast jeden Tag aufs Neue outet – beispielsweise wenn man eine neue Kollegin oder einen neuen Kunden trifft. Es ist natürlich immer auch eine sehr individuelle Entscheidung, aber ich finde, dass es wichtig ist, offen zu sich selbst zu stehen. Denn nur so lässt sich das eigene Potenzial voll ausschöpfen. Unsere tiefgreifenden Gespräche, die wir über die vergangenen Monate hinweg mit LGBTQ+-Führungskräften aus verschiedenen Unternehmen in der DACH-Region geführt haben, zeigen jedoch, dass es noch ein weiter Weg ist. Viele der Befragten stehen einem Coming-out immer noch kritisch gegenüber oder haben lange gebraucht, um sich zu outen, aus Furcht, auf ihrem weiteren Weg diskriminiert zu werden. 

Welche Erkenntnisse haben sich aus den Gesprächen ergeben? 

Jens Engelhardt: Es hat sich gezeigt, dass das Unternehmensumfeld oft entscheidend dafür ist, wie man mit seiner sexuellen bzw. Geschlechtsidentität am Arbeitsplatz umgeht. Nur die Hälfte der von uns Befragten ging demnach vom ersten Arbeitstag an offen mit ihrer sexuellen Orientierung bzw. Geschlechtsidentität um. Die übrigen 50 Prozent haben sich erst geoutet, als sie sich im Kollegenkreis akzeptiert und durch die jeweilige Unternehmenskultur ermutigt fühlten oder in einer festen Partnerschaft lebten. Unsere Befragung hat verdeutlicht, wie bedeutend es ist, dass in Unternehmen ein Umfeld besteht, in dem sich alle Mitarbeitenden sicher und ermutigt fühlen, sie selbst zu sein.  

Vor welchen Herausforderungen stehen LGBTQ+-Personen?  

Hannes Schneider: Ein häufig genannter Punkt in unseren Diskussionen waren Schwierigkeiten, Sponsoren zu finden und sich im Kollegenkreis zu vernetzen, was sich negativ auf die Karrierechancen auswirken kann. Die befragten LGBTQ+-Führungskräfte sehen sich manchmal mit Vorurteilen konfrontiert. Der sogenannte Halo-Effekt führt beispielsweise dazu, dass sie oft auf Eigenschaften wie Offenheit und Kontaktfreude reduziert werden, während gleichzeitig ihre strategischen Fähigkeiten, die in Leitungspositionen so wichtig sind, unterschätzt werden. Zudem berichten sie von einem Mangel an Unterstützung und Vorbildern. Diese Situationen führen häufig zu erhöhtem Stress und dem Gefühl, sich stärker als andere beweisen zu müssen, um Anerkennung zu finden. Das kann auf Dauer zermürbend sein. Hinzu kommt laut den Befragten eine gewisse Distanzierung, die sie als Unbehagen bei Kolleg:innen gegenüber LGBTQ+-Themen wahrnehmen, was zu einem Gefühl der Einsamkeit führt. 

Wie gehen LGBTQIA+ Personen damit um? 

Hannes Schneider: Mit negativen Reaktionen oder Diskriminierung umzugehen, ist natürlich sehr herausfordernd. Einige der von uns Befragten LGBTQ+-Führungskräfte sahen sich sogar gezwungen, ausgrenzendes Verhalten zu tolerieren, um ihre Karriere nicht zu gefährden. Die Sorge vor negativen Auswirkungen auf den beruflichen Erfolg, wenn sie sich gegen Diskriminierung wehren, ist bei ihnen oft groß. Es ist nicht zuletzt auch eine gewisse Verantwortung des Arbeitgebers, hier Vorsorge zu treffen. Dies könnte beispielsweise über eine Ombudsperson geschehen, die für entsprechende Fälle ausgebildet wurde. Offene Kommunikation und klare Anti-Diskriminierungsrichtlinien sind entscheidend, um ein sicheres und vertrauensvolles Arbeitsumfeld zu gewährleisten. Das geht übrigens über das Thema LGBTQ+ hinaus und trifft auch auf Personengruppen zu, die beispielsweise aufgrund ihrer Herkunft oder gesundheitlicher Einschränkungen unterrepräsentiert sind.  

Wie können Unternehmen Diversität und Inklusion fördern? 

Jens Engelhardt: In den letzten Jahren ist Diversität, insbesondere hinsichtlich sexueller Orientierung, in vielen Unternehmen in der DACH-Region prominenter geworden. Alles beginnt mit einem Kulturwandel, der Diversität nicht einfach nur akzeptiert, sondern sie aktiv zelebriert. Schulungen und Workshops können ein Bewusstsein dafür schaffen. Zu den weiteren Maßnahmen gehören eine entsprechende interne und externe Kommunikation, aber auch die Teilnahme an LGBTQ+-Karrieremessen. Manchen Unternehmen haben zudem LGBTQ+-Netzwerke gegründet. Entscheidend ist jedoch, dass Führungskräfte die Werte der Diversität vorleben und LGBTQIA+-Themen auf die Vorstandsagenda setzen. Dieses Engagement zahlt sich in vielerlei Hinsicht aus, wie bereits eine 2022 veröffentlichte Bain-Studie ergeben hat. So kann die umfassende Integration verschiedener Geschlechter, Altersgruppen und sozialer sowie ethnischer Hintergründe das Arbeitgeberimage stärken, die Mitarbeiterbindungen erhöhen und die Innovationskraft steigern. 

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