Brief

LGBTQ+ auf oberster Führungsebene: Mut wagen
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Auf einen Blick
  • In der DACH-Region spiegelt das Topmanagement trotz aller Bekenntnisse zur Diversität oft noch nicht die Vielfalt in der Bevölkerung wider
  • Im Rahmen von Bain-Interviews mit LGBTQ+-Führungskräften kommen zahlreiche Herausforderungen ans Licht
  • Unternehmen können gegensteuern, indem sie das Thema Diversität in die interne und externe Kommunikation integrieren, LGBTQ+-Netzwerke einrichten und für Unterstützung durch das Topmanagement sorgen

Der Monat Juni hat sich weltweit als „Pride Month“ etabliert. Auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz (DACH) zeigen immer mehr Unternehmen Flagge – und das im wahrsten Sinne des Wortes. Die Regenbogenfarben prangen an Gebäuden und sind überall im virtuellen Raum zugegen. Viele Firmen engagieren sich darüber hinaus das ganze Jahr über, beispielsweise auf LGBTQ+-Karrieremessen. Um diverse Talente zu gewinnen, zu binden und zu fördern, setzen sie sich klare Ziele in puncto Diversität, Gleichberechtigung sowie Inklusion. Doch trotz all dieser Bemühungen und der damit verbundenen Ziele schaffen bislang nur vergleichsweise wenige LGBTQ+-Führungskräfte den Sprung ins Topmanagement. Wie kann es also Unternehmen gelingen, dort für mehr Vielfalt zu sorgen?

Angesichts der Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit hat Bain in den vergangenen Monaten tiefgreifende Gespräche mit zehn Führungskräften in der DACH-Region geführt, die offen queer leben. Im Mittelpunkt standen dabei die Herausforderungen, mit denen LGBTQ+-Mitarbeitende im Allgemeinen und LGBTQ+-Führungskräfte im Besonderen im Berufsalltag konfrontiert sind, wie sie damit umgehen und welche Möglichkeiten es gibt, mehr Diversität im Topmanagement zu erreichen. Mithilfe dieser Interviews soll ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, was ihnen den Weg nach oben erschwert und wie Unternehmen Abhilfe schaffen können.

Vorteile gelebter Diversität bleiben noch ungenutzt

Schon die 2022 veröffentlichte Bain-Studie „The Fabric of Belonging: How to Weave an Inclusive Culture“ hat gezeigt, dass es für Unternehmen von Vorteil ist, Diversität zu leben. Seinerzeit waren branchenübergreifend 10.000 Angestellte in Australien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Kanada und den USA befragt worden. Das Ergebnis: Die umfassende und konsequente Integration verschiedener Geschlechter und Altersgruppen sowie Beschäftigter unterschiedlicher sozialer und ethnischer Herkunft sowie sexueller Orientierung stärkt das Image als Arbeitgeber. Darüber hinaus erhöht sich die Bindung der Mitarbeitenden an ihr Unternehmen, zugleich steigen ihre Leistungsbereitschaft und Innovationskraft.

Dies aber scheint in vielen Unternehmen noch nicht angekommen zu sein. So geben sieben der zehn in der DACH-Region kürzlich interviewten LGBTQ+-Führungskräfte an, dass ihr Arbeitgeber heute langsamere Fortschritte in puncto Diversität mache als noch vor fünf Jahren. Zudem beeinflusse die sexuelle Orientierung beziehungsweise Geschlechtsidentität nach wie vor maßgeblich den Arbeitsalltag. Insgesamt aber würde das Negative überwiegen: Sorgen wegen der Akzeptanz, ein Gefühl der Einsamkeit oder der Mangel an Vorbildern.

Nur die Hälfte der befragten LGBTQ+-Führungskräfte ist vom ersten Arbeitstag an offen mit ihrer sexuellen Orientierung beziehungsweise Geschlechtsidentität umgegangen. Die anderen haben sich erst geoutet, als sie sich im Kollegenkreis angenommen und durch die Unternehmenskultur ermutigt fühlten oder aber in einer festen Partnerschaft lebten. Wer ein direktes Outing befürwortet, nennt praktische Vorteile – beispielsweise keine Angst vor ungewollten Begegnungen nach Feierabend haben zu müssen –, oder führt an, sein berufliches Netzwerk gleich zu Beginn der Karriere informiert zu haben.

Schwierigkeiten bereitet den meisten Interviewten die Tatsache, sich in einem Arbeitsumfeld zu bewegen, in dem Heterosexualität als Norm aufgefasst wird („Heteronormativität“). So verweisen acht der zehn Befragten darauf, dass es einen Unterschied mache, ob man nur toleriert oder richtig akzeptiert werde. Sie beschreiben eine gewisse Distanzierung, die sie als Unbehagen bei Kolleginnen und Kollegen gegenüber LGBTQ+-Themen wahrnehmen würden. Dies verstärke bei ihnen das Gefühl von Einsamkeit. In der Folge würden sie sich selbst unter Druck setzen, sich beweisen sowie Stereotype bekämpfen zu müssen.

Diese Antworten machen deutlich, in welchem Ausmaß die sexuelle Orientierung beziehungsweise Geschlechtsidentität von Beschäftigten deren Einstellung zum Job sowie deren psychische Gesundheit prägen kann. Gelebte Diversität wird damit nicht nur zu einem wichtigen Faktor bei der Entscheidung für oder gegen ein Outing, sondern auch generell für das Wohlbefinden sowie die persönliche und berufliche Entwicklung von Fach- und Führungskräften

Herausforderungen sind groß

Zu den zentralen Herausforderungen für LGBTQ+-Führungskräfte zählen ein spezifischer Halo-Effekt, das Unterschätzen ihrer Leistungen, Schwierigkeiten bei der Suche nach Sponsorinnen und Sponsoren sowie der Vernetzung im Kollegenkreis. Hinzu kommt das Gefühl, ausgrenzendes Verhalten tolerieren zu müssen, um die Karriere nicht zu gefährden. Mit vielen dieser Themen sehen sich aber nicht nur LGBTQ+-Führungskräfte konfrontiert, sondern auch Personengruppen, die beispielsweise aufgrund ihrer Herkunft oder gesundheitlicher Einschränkungen unterrepräsentiert sind. Damit sind sie für zahlreiche Beschäftigte relevant und werden deshalb nachfolgend genauer beleuchtet.

LGTBQ+-Halo-Effekt. In der Psychologie bezeichnet der Halo-Effekt einen systematischen Fehler in der Personenbeurteilung, der ein einzelnes Merkmal ins Scheinwerferlicht rückt. Für LGBTQ+-Führungskräfte heißt das: Ihnen werden oft Eigenschaften wie Spaß oder Kontaktfreude zugeschrieben, gelegentlich auch eine generell höhere Aufgeschlossenheit und Akzeptanz. Dies sind allesamt Merkmale, die häufig aus der Historie heraus mit LGBTQ+-Communitys verbunden werden. Nicht automatisch hingegen werden mit diesen Führungskräften Entscheidungsfähigkeit, strategisches Denken oder Durchsetzungsvermögen assoziiert – Attribute, die Topmanagern allgemein zugeordnet werden. Die Bain-Interviews decken auf, dass sich dieser Halo-Effekt auch negativ auf die Bewertung der Leistungen und Fähigkeiten von LGBTQ+-Führungskräften auswirken kann oder auch auf die Entscheidung, Verantwortung zu übertragen. Die Folgen sind ein höheres Stresslevel, Selbstzweifel und ein selbst erzeugter Druck, mehr als andere Beschäftigte leisten zu müssen, um Akzeptanz oder Anerkennung zu finden.

Schwierigkeiten beim Aufbau von Kontakten. Die meisten Befragten berichten von Schwierigkeiten bei der Sozialisation am Arbeitsplatz, etwa bei der Vernetzung im Kollegenkreis. Sie führen dies vor allem auf die Heteronormativität ihres Arbeitsumfelds zurück. Hobbys und Interessen spielen dabei nach Darstellung der LGBTQ+-Führungskräfte ebenso eine Rolle wie ihre Lebensumstände, etwa ihr Singledasein oder ihre Kinderlosigkeit. Die offenkundigen Unterschiede erschwerten in vielen Fällen den Aufbau von persönlichen Beziehungen zu Teammitgliedern. Darüber hinaus sei es schwieriger, Mentorinnen und Mentoren oder Sponsorinnen und Sponsoren zu gewinnen. Mögliche Folge: Die Karriere von LGBTQ+-Führungskräften stockt oder sie suchen sich einen neuen Arbeitgeber, bei dem sie sich stärker akzeptiert fühlen.

Tolerieren von ausgrenzendem Verhalten. Einige der Befragten sehen sich zudem vor die Entscheidung gestellt, entweder ausgrenzendes Verhalten zu dulden oder ihre Karriere zu gefährden. Die Sorge vor negativen Auswirkungen auf ihren beruflichen Erfolg, würden sie sich gegen Diskriminierungen zur Wehr setzen, ist zum Teil groß – und manchmal tatsächlich nicht unberechtigt. Doch selbst wenn es nicht dazu kommt, kann allein der Gedanke daran bei LGBTQ+-Führungskräften am Arbeitsplatz Stress verursachen. Und es gibt Fälle, in denen von Ausgrenzung Betroffene gekündigt haben und sich gezielt einen Arbeitgeber suchten, der solch ein Verhalten nicht toleriert.

Offenkundig sehen sich LGBTQ+-Führungskräfte ungeachtet aller Fortschritte in puncto Diversität in der DACH-Region nach wie vor mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert. Ihre Entscheidung für einen Arbeitgeber hängt damit maßgeblich davon ab, inwieweit sich dieser zu einer vielfältigen Belegschaft bekennt und eine entsprechende Firmenkultur schafft – ein Weckruf für alle Unternehmen.

Wie sich die Herausforderungen meistern lassen

Die von Bain interviewten LGBTQ-Führungskräfte haben Mechanismen entwickelt, mit denen sie den Herausforderungen, die sich ihnen im Berufsalltag stellen, begegnen. Insbesondere zwei Vorgehensweisen eignen sich als Richtschnur für alle LGBTQ+-Beschäftigten:

Tragfähige Beziehungen aufbauen. Entgegen der landläufigen Meinung, authentisches Verhalten gefährde das Vorankommen, zählt dieses in Wirklichkeit zu den wichtigsten Faktoren bei der Etablierung eines starken beruflichen Netzwerks. Denn es schafft aus Sicht der befragten LGBTQ-Führungskräfte im Kollegenkreis eine gute Basis für tragfähige Beziehungen, die sowohl im Arbeitsalltag als auch persönlich weiterhelfen. Darüber hinaus sehen die Interviewten ihren LGBTQ+-Hintergrund als Vorteil bei der Zusammenarbeit mit diversen Menschen sowohl inner- als auch außerhalb des Unternehmens an.

Vorbilder finden. Es kann inspirieren und Sicherheit geben, wenn LGBTQ+-Beschäftigte im Unternehmen Vorbilder finden, die entweder selbst einen entsprechenden Hintergrund haben oder sich für sie einsetzen. Solche Vorbilder benennen ausgrenzendes Verhalten und treten für eine offene Firmenkultur ein. Ihr Bekenntnis für den Wandel und den Abbau von Barrieren kann aufstrebende LGBTQ+-Mitarbeitende ermuntern, Spitzenpositionen anzuvisieren und zu erreichen. Auf dem Weg dahin können Vorbilder ihnen etwa in Form eines Mentorings wertvolle Hinweise für die nächsten Karriereschritte geben. Auch können sie ihnen vermitteln, wie sie sich und ihre Fähigkeiten noch stärker zur Geltung bringen und noch mehr Einfluss ausüben können.

Wie Unternehmen Diversität fördern können

Doch wie können Unternehmen LGBTQ+-Führungskräfte auf ihrem Weg ins Topmanagement unterstützen? Aus deren Sicht ist der Fokus auf drei Maßnahmen zu legen: Diversität intern wie extern konsequent kommunizieren, Foren und Netzwerke für alle LGBTQ+-Mitarbeitenden einrichten sowie Diversität nachhaltig ins Bewusstsein der obersten Führungsriege rücken. Nach Überzeugung der befragten Führungskräfte ist es damit möglich, eine weitgehend diskriminierungsfreie Unternehmenskultur zu schaffen und LGBTQ+-Talente zu gewinnen sowie weiterzuentwickeln.

Diversität in die interne und externe Kommunikation integrieren. Um Vielfalt im Topmanagement zu fördern, bedarf es einer Kommunikationsstrategie, mit der dieses Thema sowohl nach innen als auch nach außen aktiv adressiert wird. Für die Unternehmen wird es dadurch leichter, herausragende LGBTQ+-Talente zu rekrutieren – und das sogar dann, wenn diesen ein besser dotiertes Angebot des Wettbewerbs vorliegt. Intern wiederum erhöht eine klare Kommunikationsstrategie Sichtbarkeit und Bedeutung der LGBTQ+-Beschäftigten. Ihre Leistungen und ihr Know-how werden im Unternehmen verstärkt wahrgenommen, was dazu führt, dass sich die diversen Kolleginnen und Kollegen gesehen und wertgeschätzt fühlen.

Foren oder Netzwerke schaffen. Mehr Diversität auf der obersten Führungsebene macht es erforderlich, Foren oder Netzwerke für alle LGBTQ+-Beschäftigten zu etablieren. Aus Sicht der Bain-Befragten stärken solche Kommunikationsplattformen das Gemeinschaftsgefühl und geben den Mitgliedern das Rüstzeug für ihre berufliche, aber auch persönliche Entwicklung. LGBTQ+-Netzwerke dienen dazu, Kontakte zu knüpfen und – wenn nötig – Unterstützung zu finden. Das Zusammentreffen mit anderen LGBTQ+-Mitarbeitenden sowie mit Kolleginnen und Kollegen, die sich für eine diverse Unternehmenskultur über alle Hierarchieebenen hinweg engagieren, erleichtert es zudem, Mentorinnen und Mentoren sowie Sponsorinnen und Sponsoren zu gewinnen – ein entscheidender Faktor für das berufliche Vorankommen. Das Topmanagement wiederum kann über diese Foren entscheidende Hinweise erhalten, inwieweit die unternehmensinterne DE&I-Strategie funktioniert, und sie in der Folge weiterentwickeln und optimieren.

Das Thema Diversität im Bewusstsein der obersten Führungsriege verankern. Soll sich der Diversitätsgrad im gesamten Unternehmen erhöhen, muss sich das Topmanagement selbst in die Pflicht nehmen. Entscheidend ist, dass die oberste Führungsriege die Werte lebt, für die das Unternehmen steht, und zudem Integration vorantreibt. LGBTQ+ sollte darüber hinaus einen festen Platz auf der Vorstandsagenda haben. Denn Tatsache ist: Ein höherer Diversitätsgrad vertieft die Bindung aller Beschäftigten und stärkt ihre Innovationskraft. Empfehlenswert ist die Teilnahme des Topmanagements an Veranstaltungen zum Thema Diversität, zugleich sollten andere Führungskräfte ebenfalls dazu ermuntert werden. Nicht zuletzt sollte die oberste Führungsriege aktiv für Unterstützung sorgen, um die Karriere von LGBTQ+-Talenten zu fördern – unter andere, etwa über Mentoring und Sponsoring.

Fazit: Mehr Vielfalt im Topmanagement ist möglich

In vielen Unternehmen ist bekannt, dass Diversität bis hinauf ins Topmanagement von Vorteil ist. Dennoch berichten LGBTQ+-Führungskräfte in der DACH-Region immer wieder von Zweifeln und von Schwierigkeiten beim Aufbau von Beziehungen im Kollegenkreis. Zugleich haben sie vielfach das Gefühl, sich entscheiden zu müssen: gegen diskriminierendes Verhalten vorzugehen oder ihre Karriere voranzutreiben.

Konkrete Maßnahmen tun not. Es gilt, in der internen und externen Kommunikation Diversität stärker zu thematisieren, LGBTQ+-Netzwerke und -Foren einzurichten sowie das Thema Diversität im Bewusstsein des Topmanagements zu verankern. Unternehmen mit einer diskriminierungsfreien Firmenkultur haben mehr als andere die Möglichkeit, herausragende LGBTQ+-Talente zu gewinnen, zu binden und weiterzuentwickeln – und in der Folge die Vielfalt in der obersten Führungsriege nachhaltig zu erhöhen.

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